Operative Versorgung degenerativer Halswirbelsäulenerkrankungen

Pathologie und Epidemiologie 
Degenerative Halswirbelsäulenerkrankungen sind relativ häufige Erkrankungen der älteren Menschen. Die Zunahme bei älteren Menschen ist einmal durch die fortlaufende Transformation der knöchernen Strukturen zu anderem durch die zunehmende Abnahme des Wassergehalts der Bandscheibe bedingt. Dass schon bei 20-jährigen laterale Risse in den Zwischenwirbelscheiben entstehen, ist Ausdruck eines Entwicklungs- bzw. eines Abnutzungs- oder eines progredienten Umbauprozesses. Die Wirbelgelenke werden dabei gelockert. Das Gleiten wird zwar so erleichtert. Die Bandscheibe erfährt jedoch dadurch eine zunehmende Zermürbung. Die degenerativen Veränderungen werden so angestoßen und münden neben einem Bandscheibenvorfall in Abnutzungserscheinungen (Arthrose) der Wirbelgelenke teilweise mit überschießenden Knochen-, Bindegewebs- und Knorpelgewebe sowie in einer vorderen und hinteren Knochenspangenbildung von Wirbelkörper zu Wirbelkörper. Nach Statistiken der Krankenkassen und Rentenversicherungsanstalten der Bundesrepublik Deutschland erfolgen 20 % aller Arbeitsniederlegungen und 50 % der vorzeitig gestellten Rentenanträge wegen bandscheibenbedingter Erkrankungen. Die zervikale Myelopathie, eine durch eine spinale Enge häufig entstandene chronische Rückenmarksschädigung, stellt in Europa, ähnlich der Situation in den USA, eine der häufigsten Ursachen für eine Arbeitsunfähigkeit der über 55-jährigen dar. Es ist davon auszugehen, dass jenseits des 70. Lebensjahres über 95 % aller Menschen relativ stark ausgeprägte spondylotische Veränderungen an der Halswirbelsäulen haben. 

Definition und Einteilung 
Unter den degenerativen Halswirbelsäulen- (HWS) Erkrankungen verstehen wir alle im Laufe des Lebens durch Degeneration der Bandscheibe entstandenen Erkrankungen, welche z.B. in zervikale weiche (weiches Bandscheibengewebe) und sog harte (verknöchertes, verkalktes Bandscheibengewebe plus knöcherne Randzackenbildung) Bandscheibenvorfälle, Ossifikation (Verknöcherung) des hinteren Längsbandes (OPLL) und zervikale spondylogene Myelopathie (Spinalkanaleinengung mit chronischer Rückenmarksschädigung) eingeteilt werden können. Letztendlich sind die meisten dieser Prozesse Ausdruck einer Degeneration und Instabilität der HWS-Segmente mit einer kompensatorischen Hypertrophie (überschießendes Wachstum) der Ligamenta (Bänder) und Hypertrophie der benachbarten knöchernen Strukturen mit einer Spondylophytenbildungen (Randzackenbildung).

Zervikaler Bandscheibenvorfall 
Durch Degeneration der zervikalen Bandscheibe entstandener reiner weicher (soft disc) oder harter spondylogener (hard disc, oft Kombination aus Bandscheibenvorfall und Retrospondylose) Bandscheibenvorfall mit Radikulo- (Kompression der Nervenwurzel) - bzw. Myelopathie (Kompression des Rückenmarks). 
Ossifikation des hinteren Längsbandes 
Verknöcherung des hinteren Längsbandes im Bereich der Bandscheibe, jedoch auch hinter den Wirbelkörpern, häufig verbunden mit einer zervikalen Myelopathie. 
Zervikale spondylogene Myelopathie 
In Verbindung mit einem zervikalen Bandscheibenvorfall und/ oder ausgeprägter Randzackenbildung (Retrospondylose) entstandene Einengung des zervikalen Spinalkanals mit zervikaler Myelopathie.

Operationsindikation
Eine absolute Indikation zur operativen Behandlung zervikaler degenerativer Erkrankungen sehen wir beim Auftreten einer deutlichen oder zunehmenden neurologischen Ausfallserscheinung (radikulären Symptomatik mit sensiblen und/ oder motorischen Ausfällen) oder bei einer progredienten zervikalen Myelopathie. 
Eine relative Indikation stellt die therapieresistente Zervikobrachialgie (Nackenarmschmerz) dar ohne neurologische Ausfälle oder die Zervikozephalgie (Nackenhinterhauptsschmerz).

Diagnostik
Neben der rein klinisch-neurologischen Diagnostik, einschließlich neuropysiologischer Untersuchungstechniken, stehen verschiedene neuroradiologische Untersuchungsverfahren zur Verfügung. Bei der klinischen Untersuchung gibt die Schilderung der Schmerzausstrahlung eines bestimmten Dermatoms (Hautareal, welches dem Versorgungsgebiet eines bestimmten Nerven entspricht) Hinweise auf die Höhenlokalisation. Sensible radikuläre Ausfälle oder Paresen der Kennmuskeln, neben einer Abschwächung der Muskeldehnungsreflexe, grenzen weiterhin die Höhenlokalisation bei einer Radikulopathie ein. Bei einer zervikalen Myelopathie gilt es neben distalen Paresen, Sensibilitätsstörungen, Muskeltonuserhöhnungen, Gangataxie, Steigerungen der Muskeleigenreflexe nachzuweisen. Die myelographische Darstellung (Injektion von Kontrastmittel in den spinalen Liquorraum und Röntgendarstellung) des zervikalen Spinalkanals wurde früher ausschließlich zur Diagnosesicherung angewandt. Heute wird sie jedoch überwiegend von der computer- und magnetresonanztomographischen Diagnostik verdrängt. In Einzelfällen ist die Myelographie in Kombination mit einem postmyelo-CT jedoch bei der Diagnosestellung hilfreich. Wir greifen überwiegend auf eine MRT-Untersuchung der Halswirbelsäule zurück. In den meisten Fällen gelingt damit eine sichere Diagnosestellung. Bei speziellen Fragestellungen ist eine Diskographie (Einspritzen von Kontrastmittel in die Bandscheibe und Röntgendarstellung) der entsprechenden Bandscheibe oder Bewegungsaufnahmen in Flexions-und Extensionstellung möglich. Beim Einspritzen von Kontrastmittel in die Bandscheibe wird der intradiskale Druck erhöht und bei einem zerrissenen Anulus fibrosus ein radikulärer Schmerz provoziert. Der Patient kann selbst differenzieren, ob es sich hierbei um eine typische Beschwerdesymptomatik handelt. Zusätzlich ist unter dem Bildwandler das Ausmaß der Bandscheibenzerstörung und ggf. der Austritt des Kontrastmittels in den Spinalkanals zu beobachten.

Möglichkeiten der operativen Versorgung
Es existieren verschiedene chirurgische Techniken für die degenerativen Bandscheibenerkrankungen der HWS. Diese können in ventrale und dorsale Verfahren unterteilt werden Das Ziel eines operativen Eingriffs ist auf die Dekompression einer oder mehrerer Nervenwurzeln oder des Myelons ausgerichtet und ggf. einer Stabilisierung des Segments. Dies kann von einem dorsalen Zugang mittels Foraminotomie (Freifräsen der Nervenwurzel im Nervenwurzelkanal) oder Hemilaminektomie (Entfernung des Halbbogens) ja auch Laminoplastik (Entfernung und Wiedereinsetzen des Wirbelbogens mit Erweiterung des Spinalkanals) oder auch durch einen ventralen Zugang mit ventraler Diskektomie mit oder ohne anschließender interkorporeller Fusion oder auch Korporektomie erfolgen.

Ventrale Verfahren 
- ventrale Foraminotomie 
Bei lateralen (seitlichen) Bandscheibenvorfällen ist eine ventrale Foraminotomie ggf. unter Belassung der Bandscheibe möglich.
- ventrale Diskektomie ohne Bandscheibenplatzhalter 
Die ventrale Diskektomie (Entfernung der Bandscheibe) kann auch ohne einen Bandscheibenersatz- bzw. einen Platzhalter durchgeführt werden. Dies scheint nach Aussagen einiger Studien, welche man aber anzweifeln muß, keinen signifikanten Einfluß auf das klinische Nachuntersuchungsergebnis zu haben.
- ventrale Diskektomie mit interkorporeller Fusion in unterschiedlichen Techniken und verschiedenen Bandscheibenplatzhaltern 
Die interkorporelle Fusion nach ventraler Diskektomie wurde von Bailey und Bagdley erstmals erwähnt und von Robinson und Smith sowie von Cloward und auch Hirsch modifiziert. Für alle ventralen Verfahren gilt, dass eine Dekompression nervaler Strukturen, das Verhindern der Entwicklung von neuen Osteophyten, eine Distraktion des Bandscheibenraums mit Entlastung des Neuroforamens (Nervenwurzelkanal) und ggf. eine Fusion der betroffenen Segmente gewünscht wird. Die Fusionsrate kann in Abhängigkeit zum jeweiligen Verfahren sehr unterschiedlich sein und soll zwischen 20 und 100 % variieren. Die Fusionsrate hat jedoch häufig keinen signifikanten Einfluss auf das klinische Nachuntersuchungsergebnis. Bei der klassischen ventralen Diskektomie nach Smith-Robinson und Cloward wird Beckenkammknochen verwendet. Um die Komplikationen nach der Knochenspanentnahme zu umgehen, wird allogener Knochen von einigen Autoren verwendet. Autologer Knochen scheint jedoch eher zu fusionieren als allogener. Klinisch ergeben sich jedoch auch hier keine signifikanten Unterschiede. Die Komplikationsrate wird durch den zusätzlichen Eingriff an der Entnahmestelle bestimmt. Diese kann bis zu 10 % liegen und drückt sich überwiegend in Schmerzen, Hämatomen, Infektionen, Nervenschädigungen, Beckenfrakturen und Bauchhernien ggf. in einem schlechten kosmetischen Ergebnis aus. Um die Probleme an der Knochenentnahmestelle zu umgeben und um eine bessere Fusionsrate zu erzielen wird auf andere Platzhalter zurückgegriffen. Polymethylmethacrylat (PMMA) hat sich dabei bewährt. 

Unter einem Cage verstehen wir einen industriell geformten Platzhalter für den Zwischenwirbelraum. Er stellt die physiologische Diskushöhe wieder her und erlaubt eine knöcherne Fusion. Es existieren unterschiedliche Cages aus z.B. Titan, Keramik, Karbon und Kunststoffen. Um eine knöcherne Fusion zu ermöglichen, haben die meisten Cages einen zentralen Hohlraum, welcher je nach Cagetyp mit autologen Knochen oder sterilisierten allogenen Knochen bzw. auch ohne zu füllen ist. Die Cages können auch mit Hydrocylapathit oder verschiedenen anderen biologischen Substanzen wie z.B. Bone Morphogenic Protein gefüllt werden. Die Fusionsraten der unterschiedlichen Cages können von 85 bis 100 % variieren. Auch scheint die primäre Stabilität auf Grund der unterschiedlichen Form der Cages zu variieren. Ein signifikanter Unterschied im klinischen Behandlungsergebnis lässt sich anhand der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten nicht eindeutig verifizieren, obwohl es einige Hinweise für ein besseres röntgenologisches und klinisches Behandlungsergebnis z.B. wie von Hacker 2000 angegeben, bis zu 97% gute klinische Ergebnisse und eine 100 % ige Fusionsrate, gibt. Cage mit integrierter Ostensyntheseplatte werden beschrieben.
- eine ventrale Plattenostensynthese mit triokortikalen Beckenkammknochen  Die Hypothese, dass eine zusätzliche ventrale Plattenostensynthese die Platzhalter-Komplikationen wie Dislokationen oder Einbruch in die benachbarten Wirbelkörper vermeidet, ist nur teilweise nachgewiesen, hat jedoch auch keinen Einfluss auf das klinische Nachuntersuchungsergebnis. 
- Wirbelkörperersatz mit trikortikalem Beckenkammknochen bzw. metallischem Platzhalter Bei einer ausgedehnten Retrospondylose mit zervikaler Spinalkanalstenose oder auch bei einer Ossifikation des hinteren Längsbandes (OPLL) mit einer zervikalen Spinalkanalstenose bietet eine Korporektomie mit anschließenden Wirbelkörperersatz durch trikortikalen Bckenkammknochen und ventraler Plattenosteosynthese eine sichere Dekompression des Rückenmarks. Der Wirbelkörperersatz kann auch mit Tibia- oder Fibulaknochen oder mit einem Titannetzzylinder erfolgen. 

Dorsale Verfahren
Foraminotomie, Flavektomie, Hemilaminektomie, Laminektomie, Laminoplastik 

Anfänglich wurden geschichtlich gesehen die dorsalen Verfahren zur Behandlung der verschiedenen HWS-Erkrankungen favorisiert. Bei der dorsalen Foraminotomie kann ein isoliert lateral liegender weicher Bandscheibenvorfall entfernt bzw. ein knöchern eingeengte Nervenwurzel dekomprimiert werden. Diese Methode galt lange Zeit als der Goldstandard zur Behandlung des zervikalen Bandscheibenvorfalls. Die Laminoplastik, mit dorsaler Erweiterung und Rekonstruktion des Spinalkanals wird von einigen Autoren als eine Alternative bei der Behandlung der zervikalen Myelopathie bei einer zervikalen Spinalkanalstenose angesehen. Die Methode wird vor allem bei einer Ossifikation des hinteren Längsbandes angewendet. Die Resultate ergeben vor allem bei letztgenannten Patientengut sehr befriedigende Resultate, welche zwischen 27 % ausgezeichneter und 50 % guter Resultate liegen sollen. Eine alleinige Laminektomie, d.h. die vollständigen Entfernung des Wirbelbogens bietet, weiterhin die Möglichkeit das Rückenmark gut von dorsal zu entlasten. Nach einer Laminektomie kann es bei bis zu 21 % aller Patienten zu einer sekundären Kyphosierung. Diese wiederum soll jedoch nicht mit einem schlechteren klinischen Behandlungsergebnis korrelieren. Die Durchsicht der Literatur über Resultate der dorsalen Laminektomie bei Myelopathie bzw. Radikulopathie ergibt Verbesserungen der neurologischen Symptome zwischen 31 und 85 %. Mit einer Verschlechterung sogar mit Zunahme der neurologischen Ausfälle kann man bei bis 10 % der Patienten rechnen. Kombinationsoperationen aus ventralen und dorsalen Verfahren ggf. auch mit einer zusätzlicher dorsalen Stabilisierung werden bei einem selektionierten Patientengut beschrieben. Zusammenfassend lässt sich auch basierend auf einer Metaanalyse von van Limbeck et al. von 2000 aufgrund der Heterogenität der Patienten in den jeweiligen Studien, der unterschiedlichen Nachuntersuchungsdauer, der unterschiedlichen Studiendesigns, der unterschiedlichen gemessenen Parameter kein Goldstandard zur Behandlung von degenerativen zervikalen Bandscheibenerkrankungen ermitteln. Wir empfehlen jedoch aufgrund unserer eigenen klinischen Erfahrungen zur Zeit folgende operative Verfahren für die entsprechenden Diagnosen:

  • Hard- oder soft disc in einer bis zwei Höhen: ventrale mikrochirurgische Diskektomie und Implantation eines Cages (z.B. PEEK),
  • Hard- oder soft disc mehr als zwei Höhen: ventrale mikrochirurgische Diskektomie, Spondylodese mit Beckenkammknochen und ventraler Plattenosteosynthese,
  • zervikale langstreckige Spinalkanalstenose von ventral: ventrale Dekompression über Korpektomie, Wirbelkörpersatz mit trikortikalen Beckenkammknochen und ventrale Plattenosteosynthese,
  • kurzstreckige dorsale zervikale Spinalkanalstenose: Hemilaminektomie und Laminektomie,
  • längerstreckige dorsale zervikale Spinalkanalstenose: Laminoplastik oder längerstreckige Laminektomie mit dorsaler osteosynthetischer Stabilisierung mit Stab-Schraubensystem (z.B. Cervifix-System)
  • isolierter lateraler Bandscheibenvorfall in einer Höhe: dorsale Foraminotomie nach Frykholm

Ansprechpartner: PD Dr. med. habil U. Vieweg,
Krankenhaus Rummelsberg GmbH, Klinik für Wirbelsäulenchirurgie
uwe.vieweg@sana.de