Kurze Geschichte der Neurochirurgie in Deutschland

Hartmut Collmann, Würzburg
Ulrike Eisenberg, Berlin

Die Grundlagen der modernen Chirurgie wurden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geschaffen, und mehrere Nationen haben dazu beigetragen: Die Narkose zur Ausschaltung des Operationsschmerzes wurde in den USA eingeführt (Warren 1846), die Antisepsis zur Vorbeugung der Wundinfektion in Schottland (Lister 1867). Die topische Organisation der Hirnfunktionen - Voraussetzung für gezielte Eingriffe am Gehirn - wurde in Deutschland (Fritsch & Hitzig 1871) und Schottland (Ferrier 1881) entdeckt.

Die Pioniere
In Deutschland waren es die zahlreichen militärischen Konflikte und die Wunden durch neue Distanzwaffen, die Chirurgen dazu zwangen, in das Gehirn vorzudringen, das bis dahin wegen der unvermeidlichen und meistens tödlichen Wundinfektion als tabu galt. Ernst von Bergmann (1836-1907), von vielen als Vater der modernen deutschen Chirurgie bezeichnet, war in erster Linie ein Militärchirurg. Geboren in Riga, Lettland, erwarb er seine ärztlichen Erfahrungen auf zahlreichen Kriegsschauplätzen, bevor er 1971 auf den chirurgischen Lehrstuhl in Dorpat (heute Tartu), Estland berufen wurde. 1878 wurde er Ordinarius an der Würzburger Universität, und 1882 schließlich Nachfolger Bernhard von Langenbecks an der Berliner Universitätsklinik. Er beschäftigte sich als erster Deutscher systematisch mit der Chirurgie des Gehirns. Frühzeitig übernahm er Listers Prinzip der Antisepsis, führte aber 1886 zusammen mit seinem genialen Mitarbeiter Curt Schimmelbusch (1860-1895) die Dampfsterilisation und damit das Prinzip der Asepsis ein. Ausgehend von seinen Erfahrungen als Militärarzt, wonach Hirnverletzungen häufig zu einem erhöhten Schädelinnendruck führen, untersuchte von Bergmann dieses Phänomen in seiner “Lehre von den Kopfverletzungen” (1880) genauer. Im Laufe der Zeit sammelte er auch Erfahrungen mit den nichttraumatischen Hirnerkrankungen, die er in dem Buch “Die chirurgische Behandlung der Hirnkrankheiten” (1889) zusammenfasste. Seine Haltung zur Tumorchirurgie war angesichts der katastrophalen Ergebnisse noch von großer Skepsis geprägt: Blutverlust und postoperative Hirnschwellung stellten unbeherrschbare Probleme dar. Nur rindennahe Tumoren des Großhirns hielt er für operabel, von Eingriffen am Kleinhirn riet er grundsätzlich ab. Seine Autorität sorgte dafür, dass der gerade aufkommende chirurgische Enthusiasmus wieder abebbte. Dennoch konnte sein Schüler Friedrich (“Fritz”) Gustav von Bramann (1854-1913), seit 1890 chirurgischer Ordinarius in Halle, über einige spektakuläre Erfolge bei Hirnoperationen berichten. Mit seinem „Balkenstich“, entwickelt zusammen mit seinem neurologischen Partner Gabriel Anton (1858-1933), stellte Bramann eine Verbindung zwischen drittem Ventrikel und äußeren Liquorräumen her und konnte mit dieser Frühform einer Ventrikulostomie beim Hydrozephalus vereinzelt sogar mehrjährige Behandlungserfolge erzielen.

Ernst von Bergmann

Unabhängig von Ernst von Bergmann entwickelte sich Fedor Krause (1857-1937) zum eigentlichen Pionier der deutschen Neurochirurgie: Die Chirurgie des Nervensystems wurde sein Hauptarbeitsgebiet. Trotzdem blieb er zeitlebens Allgemeinchirurg, der das gesamte Spektrum der Chirurgie abdeckte. Krause hatte seine chirurgische Ausbildung bei Richard von Volkmann in Halle erhalten. Dort hatte er mit dem “Krause-Lappen” (Krause-Wolfe graft), einem freien Vollhauttransplantat, bereits einen bedeutenden Beitrag zur plastischen Chirurgie geleistet.

Nach seiner Habilitation wurde er 1892 zum Leiter der chirurgischen Abteilung in Hamburg-Altona berufen, wechselte aber 1900 nach Berlin an das kleine, gemeinnützige, privat getragene Augusta-Hospital, wo er bis zu seinem Ruhestand 1921 blieb.

Krause war ein außerordentlich begabter Chirurg, der als Erster einige der wichtigsten Zugangswege zu tief gelegenen Hirnregionen beschrieb. So entwickelte er 1893 kurz nach, aber unabhängig von dem Amerikaner Frank Hartley (1856-1813) den extraduralen Zugang zum Ganglion Gasseri bei Patienten mit Trigeminusneuralgie. Zur Schädelöffnung übernahm er Wilhelm Wagners (1848-1900) Technik des gestielten Knochenlappens von 1889, die sich damit als Routinemethode durchsetzte. 1898 beschrieb er den operativen Zugang zum Kleinhirnbrückenwinkel und 1900 den Zugang zur Sellaregion entlang der Basis des Stirnhirns, um eine Pistolenkugel zu entfernen. Das Projektil hatte er mit den von Wilhelm Conrad Röntgen 1895 entdeckten Strahlen lokalisieren können. Krause war 1908 vermutlich der erste Chirurg, der einen lumbalen Bandscheibenvorfall erfolgreich entfernte, auch wenn er ihn irrtümlich für einen Tumor („Enchondrom“) hielt. Schließlich entwickelte er 1913 den Zugang zur Pinealisregion zwischen Kleinhirnoberfläche und Tentorium, den „Krause-Zugang“. Da zu dieser Zeit neuroradiologische  Kontrastverfahren noch nicht zur Verfügung standen, war Krause auf die  subtile klinische Untersuchungstechnik seines genialen neurologischen Partners Hermann Oppenheim (1857-1919) angewiesen, der ihm zeigte, wo der Schädel oder der Wirbelkanal geöffnet werden musste. Hirnoperationen führte Krause stets zweizeitig durch, weil sich der Patient wegen der noch unzureichenden Methoden der Blutstillung und fehlenden Transfusionsmöglichkeit nach der Trepanation zunächst erholen musste. Der eigentliche Eingriff am Gehirn folgte eine bis zwei Wochen später. Trotz der bereits bekannten Risiken der Chloroform-Narkose zog er diese Form der Schmerzausschaltung der gut entwickelten Lokalanästhesie vor, da letztere den Patienten psychisch zu sehr belaste. Eingriffe am Kleinhirn führte er am sitzenden Patienten durch, wobei der Kopf durch einen Assistenten gestützt wurde. Seine neurochirurgischen Erfahrungen fasste Krause 1908 und 1911 in einem zweibändigen Lehrbuch zusammen, das auch in englischer und französischer Übersetzung erschien und über Jahrzehnte als Standardwerk galt.

Fedor Krause, ca. 1890

Neben Krause begannen auch andere Chirurgen, sich auf das Nervensystem zu konzentrieren. Dem Bergmann-Schüler Moritz Borchardt (1868-1948) gelang 1905 erstmals die radikale Entfernung eines Tumors des achten Hirnnerven (Vestibularisschwannom), die nicht sofort im Tod des Patienten endete – bei der damals üblichen Präparationstechnik mit dem Finger ein kleines Wunder. Borchardt beschäftigte sich auch intensiv mit der Chirurgie peripherer Nerven und führte vorbildliche anatomische Studien durch. Als einer der ersten wies er auf die Bedeutung der Dauer der primären Bewusstlosigkeit für die Prognose gedeckter Hirnverletzungen hin. Der Österreicher Erwin Payr (1871-1946) in Leipzig behandelte den Wasserkopf (Hydrozephalus), indem er mit einer frei transplantierten Vene eine direkte Verbindung zwischen Hirnkammern und Längsblutleiter herstellte, eine Technik, die eine feine Gefäßnaht erforderte. Ernst Unger (1875-1938), ebenfalls Bergmann-Schüler, führte 1910 und damit lange vor Harvey Cushing den chirurgischen Sauger bei Hirnoperationen ein. Warum seine Entdeckung von seinen Kollegen nicht weiter beachtet wurde, ist bis heute ein Rätsel. Bekannter wurde Unger als Pionier der Nierentransplantation und des Blutspendewesens.

Moritz Borchardt (Familienarchiv)
Erwin Payr
Ernst Unger

Die zweite Pioniergeneration
Der Erste Weltkrieg beeinflusste die Neurochirurgie in Deutschland nachhaltig, allerdings in gegensätzlicher Weise. Zunächst führten die zahlreichen Verwundeten von den Schlachtfeldern zu einem Entwicklungsschub: Viele Chirurgen befassten sich jetzt mit der Versorgung von Verletzungen peripherer Nerven und des Gehirns. In Berlin gab es ein erstes Spezial-Lazarett für Hirnverletzte. Mit der Niederlage der deutschen Wehrmacht wurde diese aus medizinischer Sicht positive Entwicklung abrupt gebremst. Die Siegermächte schlossen Deutschland vom internationalen wissenschaftlichen Austausch weitgehend aus und verbannten die deutsche Sprache aus internationalen Journalen. Begründet wurde dieser Boykott nicht allein mit der Deutschland aufgebürdeten Kriegsschuld, sondern explizit mit dem aggressiven deutschen Nationalismus, wie er besonders in der Erklärung „An die Kulturwelt“ vom Oktober 1914 zum Ausdruck kam. Obwohl der Boykott 1926 aufgehoben wurde, verlängerten die gekränkten deutschen Mediziner in einem Gegen-Boykott ihre Isolation bis Anfang der 1930er Jahre. Als zweiter Faktor wirkte sich der wirtschaftliche Zusammenbruch negativ aus, verursacht durch die Kriegskosten selbst, die unrealistischen Reparationsforderungen aus dem Versailler Vertrag und die konsekutiven politischen Unruhen. Als weiteres Hemmnis erwies sich die unverändert autoritäre Struktur der akademischen Institutionen. Sie stand neuen Ideen einer medizinischen Subspezialisierung entgegen. Dennoch leistete die zweite Pioniergeneration wesentliche Beiträge zur Weiterentwicklung der Neurochirurgie.

Ihr bekanntester Vertreter wurde Otfrid Foerster (1873-1941), Er hatte nach einer zweijährigen Studienzeit bei Jules Déjérine in Paris und Heinrich Frenkel in der Schweiz seine neurologische Ausbildung bei Carl Wernicke im damaligen Breslau (heute: Wroclaw, Polen) erhalten. 1911 wurde er Leiter einer kleinen neurologischen Abteilung in einer Breslauer Klinik, erhielt 1917 einen persönlichen Lehrstuhl für Neurologie und wirkte ab 1920 im städtischen Wenzel-Hancke-Krankenhaus.

Schon seit 1908 hatte er gemeinsam mit Breslauer Chirurgen Eingriffe am Rückenmark durchgeführt, um zunächst mit gezielter Durchtrennung einzelner Hinterwurzeln die schwere Spastik bei Hirnkranken zu mildern („Foerstersche Operation“, 1908), ein Eingriff, der auch gegen die Schmerzkrisen bei der damals so häufigen Neuro-Syphilis half. Noch wirksamer gegen lokale Schmerzen erwies sich die direkte Unterbrechung der Schmerzbahn im Rückenmark, die er 1912 kurz nach, aber unabhängig von den Amerikanern Spiller und Martin durchführte. Obwohl selbst ohne chirurgische Grundausbildung, begann er während des Krieges mit selbstständigen Operationen an peripheren Nerven, weil nicht genügend Chirurgen verfügbar waren. Sehr bald folgten Eingriffe bei Tumoren des Rückenmarks und des Gehirns. Damit begründete Foerster neben der chirurgischen Schule eine primär neurologisch geprägte Schule der Neurochirurgie.

Im Gegensatz zum praxisorientierten Kliniker Fedor Krause war Foerster ein Wissenschaftler, der sich zeitlebens auf die funktionelle Neuroanatomie konzentrierte und mit jedem chirurgischen Eingriff auch den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn suchte. Bedingt durch seine Ausbildung lag sein Hauptaugenmerk auf der Neuro-Rehabilitation: Er untersuchte die motorischen und sensiblen Bahnen des Rückenmarks, verbesserte das Schema der Dermatome und studierte den Effekt aktiver Übungen auf die Nervenfunktionen.

Wie Krause beschäftigte er sich auch mit der chirurgischen Behandlung der Epilepsie. Durch elektrische Stimulation der Hirnrinde schuf er Grundlagen für das heutige Brain Mapping.

In den 1920er Jahren gehörte Foerster zu den berühmtesten Neurologen der Welt. So wurde er 1922 als Mitglied eines beratenden Ärzteteams an Lenins Krankenbett gerufen. Ausländische Besucher wie Wilder Penfield und William Cone aus Kanada, Percival Bailey und Paul Bucy aus den USA bewunderten seine fundierten wissenschaftlichen Kenntnisse und seine elegante Operationstechnik am Nervengewebe. Gleichzeitig waren sie schockiert über die grobe Technik der Schädelöffnung, durchgeführt mit einem einfachen Handtrepan und in Straßenkleidung unter der Gummischürze. Wie Krause plante Foerster seine Hirnoperationen stets zweizeitig. Denn nicht nur der Patient, auch der Operateur benötigte vor dem eigentlichen Eingriff am Gehirn eine Erholungspause. 1930 war Foerster zu Gast bei dem amerikanischen Pionier der Neurochirurgie Harvey Cushing in Boston, wo er mit dem Titel „Surgeon-in-Chief pro tempore“ geehrt wurde. Die Rockefeller-Stiftung finanzierte für Foerster ein „Neurologisches Forschungsinstitut“, das schließlich 1934 eingeweiht werden konnte. Ab 1935 fasste Foerster sein Lebenswerk gemeinsam mit Oswald Bumke in einem 17-bändigen Handbuch der Neurologie zusammen. Er blieb an seinem Arbeitsplatz, bis er und seine Frau 1940 an Tuberkulose erkrankten, der beide im Abstand von nur zwei Tagen erlagen. Da seine Frau Halbjüdin war, hielten sich Gerüchte von ihrem Freitod, um Schikanen und Deportation durch das NS-Regime zu entgehen.

Otfrid Foerster, ca. 1925

Emil Heymann (1878-1936) ist dagegen heute vielen Zeitgenossen unbekannt, obwohl er als Neurochirurg dem berühmten Breslauer Kollegen mindestens ebenbürtig, wahrscheinlich sogar überlegen war. Als Krauses Assistent seit 1903 und Oberarzt seit 1909 hatte er eine gründliche und umfassende allgemein- und neurochirurgische Ausbildung erfahren. Er hatte an Krauses Lehrbuch von 1908/11 mitgewirkt und noch vor dem Krieg mit seinem Chef die ersten beiden Teile eines sechs-bändigen chirurgischen Lehrbuchs verfasst.

Schließlich wurde er 1921 Krauses Nachfolger am Berliner Augusta-Hospital, wo er Krauses neurochirurgische Schule fortführte. Heymann wurde von Zeitzeugen als brillanter Operateur geschildert. Er war wie sein Lehrer in erster Linie Kliniker, der die Ergebnisse der operativen Eingriffe zu verbessern suchte.

Ebenso wie Foerster setzte er die neuen diagnostischen Möglichkeiten der Luftenzephalographie und der Myelographie mit positivem Kontrastmittel konsequent ein. 1929 übernahm er als Erster in Deutschland die von Cushing und Bovie kurz zuvor publizierte Technik der Elektrokoagulation mit Hochfrequenzstrom für die Hirnchirurgie und verbesserte Geräte und Handstücke. Er befasste sich mit der Chirurgie der Tumoren am Kleinhirnbrückenwinkel und konnte gegenüber Krause deutlich bessere Ergebnisse vorweisen. Besondere Expertise erwarb er in der Chirurgie der Tumoren im Wirbelkanal. Hirnoperationen führte Heymann wie sein Lehrer zweizeitig durch, bevorzugte aber die Lokalanästhesie, die er seit 1927 mit dem neuen rektalen Narkosemittel Tribromäthanol (Avertin®) ergänzte. Dass er ohne Handschuhe und Mundschutz operierte, war damals keineswegs unüblich. Obwohl in einem kleinen Haus überwiegend als Allgemeinchirurg tätig und mit bescheidenen Mitteln ausgestattet, war er als Neurochirurg national und international angesehen, wie in Anfragen u.a. der New Yorker Columbia-Universität zeigte. Er pflegte eine kollegiale Freundschaft sowohl mit Ferdinand Sauerbruch als auch mit dem schwedischen neurochirurgischen Pionier Herbert Olivecrona.

Emil Heymann, ca. 1935

Einige Zeitgenossen Heymanns wurden ebenfalls neurochirurgisch aktiv. Alexander Stieda (1875-1966), Bramann-Schüler und nach dem Krieg in Halle-Weidenplan tätig, sammelte im Lauf seines Berufslebens ausgedehnte hirnchirurgische Erfahrungen. Nicolai Guleke (1878-1958), jüngster Schüler Ernst von Bergmanns, hatte 1919 den chirurgischen Lehrstuhl in Jena und damit eine der größten chirurgischen Kliniken Deutschlands übernommen. Er befasste sich besonders mit Tumoren des Wirbelkanals, später auch mit Hirntumoren. Sein neurologischer Partner war Hans Berger, der Erfinder des EEG. Arthur Woldemar Meyer (1885-1933), seit 1922 Leiter der Zweiten Chirurgischen Klinik in Berlin-Charlottenburg, entwickelte eine Messsonde, mit der er Hirntumoren anhand des elektrischen Gewebswiderstandes identifizieren konnte. Die Methode wurde in den 1950er Jahren in der damaligen DDR noch einmal aufgegriffen. Bekannter wurde Meyer wegen seiner erfolgreichen Operationen bei akuter Lungenembolie. Franz Schück, geboren als Franz Breslauer (1888-1958), Chirurg im Berliner städtischen Krankenhaus Am Urban, lieferte wichtige Erkenntnisse zur Pathogenese des sog. Sudeck-Syndroms und betonte die Rolle des Hirnstamms bei der Steuerung des Bewusstseins. Wilhelm Löhr (1889-1941) in Magdeburg führte 1933 die von Antonio Egas Moniz entwickelte Technik der Hirnangiographie in Deutschland ein, wobei er wegen des besseren Kontrastes radioaktives Thoriumdioxid verwendete. Dessen furchtbare Nebenwirkungen offenbarten sich erst Jahrzehnte später. Herbert Peiper (1890-1952) beschäftigte sich zur gleichen Zeit wie Heymann mit der Kontrastdarstellung des Wirbelkanals; er führte den Begriff „Myelographie“ ein. Heymann und Peiper wurden damals als wichtigste Experten der neuen Untersuchungstechnik zitiert. Keiner der Genannten betrachtete die Neurochirurgie als autonomes Spezialgebiet, sondern stets als Teilgebiet der großen allgemeinen Chirurgie.

Alexander Stieda
Nicolai Guleke
Wilhelm Löhr

Demgegenüber war die Verselbstständigung der Neurochirurgie im Ausland weiter fortgeschritten. Harvey Cushing (1869-1939) in den USA hatte sich seit 1904 ausschließlich auf die Chirurgie des Nervensystems konzentriert und diese Haltung auch offensiv vertreten. Mit seinen guten Operationsergebnissen erregte er bald Aufsehen, zog daher zahlreiche Stipendiaten und Gastärzte an, die seine Ideen weltweit verbreiteten. Cushing führte seine Erfolge auf die ausschließliche Beschäftigung mit dem Nervensystem und auf spezielle Techniken und Hilfsmittel zurück: So hatte er schon 1901 das Narkoseprotokoll mit Blutdrucküberwachung eingeführt, 1911 den Gefäßclip und ab 1918 – unabhängig von Ernst Unger – stufenweise den chirurgischen Sauger, der sich bis Mitte der 1920er Jahre annähernd zur heutigen Form entwickelt hatte. 1927 folgte die entscheidende Abwandlung eines Diathermie-Apparates zur elektrischen Verschorfung blutender Gefäße, ohne dass der Strom am Gehirn Krampfaktivität auslöste. Die Teilung der Hirnoperationen in zwei Zeiten hatte er frühzeitig aufgegeben, ebenso die Auslösung der Hirntumoren mit dem Finger. Vor allem vertrat er bei Hirntumoren ein anderes Prinzip als bisherige Chirurgen, die durch Umfahren der Tumorgrenzen eine radikale Exstirpation anstrebten. Cushing höhlte die Tumoren zunächst aus und ließ notfalls eine Tumorschale stehen, wenn ihre Entfernung zu riskant erschien. Denn er hatte die Erfahrung gemacht, dass nachwachsendes Tumorgewebe und sogar die Tumorkapsel in manchen Fällen in einer zweiten Operation erfolgreich entfernt werden konnten. Bis Anfang der 1930er Jahre war – mit Ausnahme der Elektrokoagulation - keine dieser Methoden in Deutschland üblich. Cushing, seit 1912 Chef in Boston, hatte 1920 zusammen mit eigenen Schülern und anderen interessierten Kollegen die erste neurochirurgische Fachgesellschaft der Welt gegründet, der schon 1932 eine zweite nationale Gesellschaft folgte. In Großbritannien entstand 1926 eine eigene Gesellschaft, und 1936 bildeten auch holländische Cushing-Schüler eine neurochirurgische Organisation.