Geschichte - History 2. Teil

Bemühungen um Eigenständigkeit
In Deutschland begann eine junge Generation erst etwa ab Mitte der 1920er Jahre, nach dem amerikanischen Vorbild sich ganz auf die Neurochirurgie zu konzentrieren. Walter Lehmann (1888-1960) aus Göttingen, der sich seit dem Krieg mit der Chirurgie peripherer Nerven einen Namen gemacht hatte, bemühte sich 1926 nach einer USA-Reise vergeblich um eine Anerkennung der Neurochirurgie als neue Disziplin. Ludwig Guttmann (1899-1980), erster Schüler von Otfrid Foerster, baute 1928 in Hamburg eine neurochirurgische Station auf, kehrte jedoch bald wieder nach Breslau zurück, um seinen Lehrer in einer personellen Notsituation zu unterstützen. Alice Rosenstein (1898-1991), ebenfalls Foerster-Schülerin, arbeitete ab 1929 in Frankfurt unter Karl Kleist als Neuroradiologin und – als erste Frau der Welt – auch als Neurochirurgin. Bernhard Badt (1893-1972), als Neurologe unter anderem Foerster-Schüler, folgte Guttmann 1930 auf die neurochirurgische Station in Hamburg-Friedrichsberg. Er vertiefte seine Ausbildung später über mehrere Jahre bei Herbert Olivecrona in Stockholm. Carl Felix List (1902-1968) wurde nach vierjähriger neurologischer Ausbildung bei Otfrid Foerster und Paul Schuster von Moritz Borchardt angeworben und 1931 auf dessen Kosten für ein Jahr zu Cushing geschickt. Denn Borchardt beabsichtigte, gemeinsam mit dem Neurologen Kurt Goldstein in Berlin-Moabit eine neurochirurgische Abteilung einzurichten. Auch der Leipziger Neurologe Jost Joseph Michelsen (1904-1989) entschied sich 1932 als Stipendiat in Boston für die neurochirurgische Laufbahn. Alle Bemühungen aus dieser Gruppe, die Neurochirurgie als eigenständiges Fachgebiet zu etablieren – 1926 von Lehmann, 1928 von Heymann und 1932 von Borchardt und List – scheiterten an berufspolitischen Widerständen oder wurden auf Eis gelegt.

Ludwig Guttmann
Walter Lehmann © H. Lehmann
Carl Felix List © W. List

Verfolgung deutscher Neurochirurgen im Nationalsozialismus
Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler Ende Januar 1933 hatte für die Neurochirurgie in Deutschland erneut weitreichende Folgen. Als eine der ersten Maßnahmen der NS-Regierung wurden alle jene Ärzte aus ihrem Amt entfernt oder zumindest konsequent boykottiert, die nach einer willkürlichen Definition zu Juden erklärt worden waren. Diese Maßnahme traf neun von 20 Institutionen, die Neurochirurgie als Arbeitsschwerpunkt betrieben, aber nahezu alle, die sich vollständig spezialisieren wollten. Besonders betroffen war Berlin, wo die leitenden Ärzte in fünf von sechs Arbeitsstätten gedemütigt und vertrieben wurden: Emil Heymann im Augusta-Hospital, Moritz Borchardt (Krankenhaus Moabit), Ernst Unger (Ungersche Klinik), Arthur Woldemar Meyer (Krankenhaus Westend), Franz Schück (Urban-Krankenhaus). Unger konnte in seiner Privatklinik zunächst noch weiterarbeiten und Heymann wurde erst zum Frühjahr 1936 von seinem Arbeitgeber, dem Deutschen Roten Kreuz, formell entlassen. Meyer erschoss seine „halbjüdische“ Frau und sich selbst im November 1933, vermutlich, weil er die Inhaftierung befürchtete, nachdem er Geld in die Schweiz transferiert hatte – damals ein hart bestraftes Vergehen. Foersters Oberarzt Guttmann konnte zunächst auf das Israelitische Krankenhaus in Breslau ausweichen. Letztlich wurden alle Betroffenen zur Aufgabe gezwungen: Emil Heymann erlag im Januar 1936 kurz vor seiner Emigration nach Chile einem Herzinfarkt, Ernst Unger wurde Opfer von Kriminellen und starb nach einem Verkehrsunfall. Alle anderen emigrierten, sechs von ihnen letztlich in die USA, teilweise über europäische Länder, zwei nach Großbritannien, Borchardt nach Argentinien. Nur Carl Felix List und Jost Joseph Michelsen gelang es, in ihrem Gastland als Neurochirurgen Fuß zu fassen. Andere fanden eine Position als Nervenärzte, so Alice Rosenstein, die sich eine hochrangige Position in der US Army erarbeitete. Ludwig Guttmann revolutionierte in England die Behandlung der Querschnittslähmungen und gründete die Paralympischen Spiele. Walter Lehmann konnte seine Tätigkeit zunächst in Albanien, seinem ersten Exil, fortsetzen und gilt heute als Begründer der dortigen Neurochirurgie. Nach erneuter Flucht in die USA blieben seine Bemühungen um beruflichen Anschluss vergeblich. Auch Franz Schück fand im amerikanischen Exil keine angemessene Anstellung mehr. Bis auf Guttmann sind die genannten Namen in Deutschland heute weitgehend vergessen – das NS-Regime hatte sie – unter bereitwilliger Mitwirkung ihrer „arischen“ Kollegen – zielstrebig aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Dieselben Kollegen mochten sich auch nach dem Krieg nicht mehr an die Verfolgten erinnern.

Beginnende Eigenständigkeit – der Zweite Weltkrieg
Die Chance, das junge Fachgebiet in die Selbstständigkeit zu führen, erhielt ein anderer: Wilhelm Tönnis (1898-1978). Er füllte in Berlin die Lücke an hirnchirurgischer Kompetenz, die 1936 nach Heymanns Tod augenfällig wurde. Tönnis war es 1934 erstmals gelungen, die Neurochirurgie mit ministeriellem Segen als eigenständiges Fachgebiet zu etablieren. Geboren im Ruhrgebiet, hatte er 1924 eine chirurgische Ausbildung bei Victor Schmieden in Frankfurt begonnen, wo er u.a. Herbert Peiper als älteren Assistenten kennenlernte. 1926 wechselte er zu dem Bergmann-Schüler Fritz König nach Würzburg. Bereits 1929 habilitierte er sich für das Fach Chirurgie. Danach bat er seinen Chef um Unterstützung für eine Spezialisierung in Neurochirurgie. Königs Anfrage bei Cushing wurde negativ beantwortet. Herbert Olivecrona in Stockholm, mit König gut bekannt, erklärte sich dagegen bereit, Tönnis als Gastarzt aufzunehmen. Nach einer kurzen neurologischen Grundausbildung in Hamburg arbeitete Tönnis 1932 als Rockefeller-Stipendiat sieben Monate bei Olivecrona, einem neurochirurgischen Autodidakten, aber überzeugten Anhänger der Cushing-Schule. Außer den speziellen Techniken Cushings erlernte Tönnis bei Olivecronas Mitarbeiter Erik Lysholm, dem damals europaweit führenden Neuroradiologen, die differenzierte Interpretation der Pneumenzephalographie (Kontrastierung der Liquorräume mit Luft). Nach seiner Rückkehr sorgte er in Würzburg mit der erfolgreichen Nachoperation einiger Patienten mit zuvor nicht entdeckten Hirntumoren für Aufsehen. Mit Unterstützung Königs konnte Tönnis im August 1934 die erste deutsche, von der bayerischen Regierung genehmigte Abteilung für Neurochirurgie errichten.

Wilhelm Tönnis (Mitte) assistiert Olivecrona, 1932

Nachdem König in den Ruhestand geschickt worden war, suchte Tönnis nach einer selbstständigen Position. Mit Königs Hilfe nahm er Kontakt zur Universität Berlin auf – und hatte Erfolg: Zum April 1937 wurde er auf das erste deutsche Extraordinariat für Neurochirurgie und Direktor der neurochirurgischen Universitätsklinik in der Klinik am Hansaplatz berufen - gegen den Widerstand des chirurgischen Lehrstuhlinhabers. Gleichzeitig erhielt er die Leitung einer Forschungsabteilung im Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, das seit kurzem unter der Leitung des befreundeten Neuropathologen Hugo Spatz stand. Dabei erwiesen sich die neuen politischen Verhältnisse als sehr hilfreich: So war die Universität bei den Berufungen formal gar nicht eingebunden. Außerdem erhielt die Hirnchirurgie durch das NS-Regime jetzt politische Unterstützung. Denn 1936 hatten mit dem Vier-Jahresplan die Kriegsvorbereitungen begonnen, und die Regierung hatte die militärische Bedeutung des neuen Faches erkannt. Tönnis fügte sich in das politische System ein und wurde im Herbst 1937 Mitglied der NSDAP. Als Neurochirurg bemühte er sich von Anfang an um internationale fachliche Kontakte. 1936 gründete er die weltweit erste spezielle Fachzeitschrift, das „Zentralblatt für Neurochirurgie“, mit einem internationalen Herausgeberstab. 1937 gelang es ihm, die Britischen Neurochirurgen zu ihrer turnusmäßigen Auslandstagung nach Berlin zu holen – zusätzlich auch nach Breslau als Referenz an Foerster.

Wilhelm Tönnis, 1938

Neben den neurochirurgischen Abteilungen in Berlin und Breslau gab es Anfang 1937 nur wenige kleine eigenständige Einheiten, so in den neurologischen Kliniken von Hamburg (Otto Hinrich Voss), Frankfurt (Tönnis-Schüler Traugott Riechert) und Breslau-St. Georg (Foerster-Schüler Friedrich-Wilhelm Kroll) sowie in der chirurgischen Klinik Hannover-Nordstadt (Otto Glettenberg, 1894- 1955). Auch in München existierte seit Beginn des Jahres 1937 eine kleine Abteilung unter der Leitung von Franz Karl Kessel (1900-1974). Der Österreicher hatte in den vorangegangenen drei Jahren eine hervorragende Ausbildung erhalten durch Aufenthalte bei de Martel in Paris, Schönbauer in Wien und zuletzt während 18 Monaten bei Olivecrona in Stockholm. Dieser exzellente Fundus kam in Deutschland aber nicht zum Tragen, weil auch Kessel wegen seiner jüdischen Ehefrau 1939 zur Emigration gezwungen wurde.

Otto Glettenberg
Franz Karl Kessel

Bis zum Ausbruch des Krieges wurden weitere neurochirurgische Einrichtungen geschaffen, so dass sich die Gesamtzahl auf neun erhöhte. Freie Stellen konnte Tönnis überwiegend mit eigenen Schülern besetzen. Neben Traugott Riechert waren es: Gerhard Okonek (1906-1961) in Göttingen, Georg-Friedrich Häussler (1904-1977) in Hamburg, Peter Röttgen (1910-1995) in Bonn, Erich Fischer (später: Fischer-Brügge, 1904-1951) in Münster. Arist Stender (1903-1975), Oberarzt von Otfrid Foerster in Breslau, leitete jetzt eine eigene neurologisch-neurochirurgische Station. Felix Jaeger in München, Schüler von Georg Magnus, übernahm 1939 Kessels neurochirurgische Abteilung, nachdem letzterer mit seiner jüdischen Frau nach England geflohen war. Tönnis‘ Aufruf zur Gründung einer nationalen Fachgesellschaft im Herbst 1939 wurde mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges hinfällig.

Gerhard Okonek
Peter Röttgen
Erich Fischer

Erneut wurden die chirurgischen Abteilungen zu Lazaretten umgewandelt, die neurochirurgischen Einheiten entsprechend zu Speziallazaretten für Hirnverletzte. Tönnis wurde beratender Neurochirurg der Luftwaffe, später der gesamten Wehrmacht und stieg dabei bis zum Rang eines Generalarztes auf. Er richtete, ähnlich wie Hugh Cairns in Großbritannien, mobile Operationseinheiten ein, um die Prognose der offenen Hirnverletzungen zu verbessern. Außerdem organisierte er den Lufttransport der frisch Verwundeten nach Erstversorgung in eines der Heimatlazarette für Hirnverletzte und sorgte für intensive Rehabilitationsmaßnahmen. Dafür erhielt er internationale Anerkennung.

Neurochirurgie in der Bundesrepublik
Der Zweite Weltkrieg endete für Deutschland nicht nur in einer physischen, sondern wegen der zahlreichen Gräueltaten unter dem NS-Regime mehr noch in einer psychischen und moralischen Katastrophe. Viele Städte lagen in Trümmern, auch Tönnis‘ Hansaklinik in Berlin war zerstört. Die Sowjetunion hatte sich nach Westen ausgedehnt und Polen dabei verschoben: Breslau hieß jetzt Wroclaw und lag auf polnischem Staatsgebiet. Aus vier deutschen Besatzungszonen entwickelten sich 1949 zwei separate Staaten, vier Jahrzehnte lang geteilt durch den Eisernen Vorhang als Symbol des Kalten Krieges. Die Bevölkerung war in der Nachkriegszeit vor allem mit den eigenen Verlusten, mit dem Überlebenskampf und dem Wiederaufbau beschäftigt und blendete die eigene Verantwortung an den NS-Verbrechen lange aus. Auch die Bemühungen der Besatzungsmächte um eine politische Säuberung scheiterten letztlich an der großen Zahl der betroffenen Personen. Schon in den ersten Nachkriegsjahren wurden zahlreiche neurochirurgische Abteilungen gegründet, um die vielen Kriegsopfer zu versorgen. Sie wurden meistens von Neuro-chirurgen mit Kriegserfahrung geleitet, von denen die große Mehrheit in unterschiedlichem Ausmaß mit dem NS-System verbunden gewesen war. Wesentliche Nachteile hatten nur wenige von ihnen in Kauf zu nehmen. Wilhelm Tönnis konnte bereits im Frühjahr 1946 im Knappschafts-Krankenhaus Bochum eine große chirurgische Abteilung übernehmen. Von hier aus baute er die neurochirurgische Disziplin zielgerichtet weiter aus. So erschien ab 1949 wieder das „Zentralblatt“, das 1943 kriegsbedingt eingestellt worden war. 1950 wurde endlich die „Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie“ gegründet. Ein Jahr zuvor war Tönnis nach Köln auf den ersten ordentlichen Lehrstuhl für Neurochirurgie berufen worden.1951 zog er mit einem Teil seines Bochumer Teams in einen Kölner Neubau um.

Auch in der Kölner Klinik blieben die Hirntumoren das wichtigste Forschungsgebiet. Histologische Befunde und klinische Verläufe bildeten die Grundlage einer Tumorklassifikation, entwickelt von Tönnis‘ langjährigem Mitarbeiter Klaus-Joachim Zülch (1910-1988), die 1979 von der Weltgesundheitsorganisation als internationaler Standard übernommen wurde. Ab 1954 gab Tönnis zusammen mit seinem Mentor Olivecrona ein 12-bändiges Handbuch der Neurochirurgie heraus, das 1974 schließlich vollendet wurde. Am nachhaltigsten dürften aber seine Bemühungen um die Etablierung der Neurochirurgie als akademisches Lehrfach gewesen sein. Viele seiner Schüler und „Enkel“-Schüler gründeten im westlichen Teil Deutschlands neue Abteilungen, die später zu Lehrstühlen aufgewertet wurden. Zu den oben schon Genannten kamen nach dem Krieg u.a. hinzu: Rupert Strohmayer (1906-??) in Bremen (1949), Wilhelm Klug (1910-2001) in Bochum (1951), Eduard Weber in München (1952), Hans-Werner Pia (1921-1986) in Gießen (1953), Kurt Schürmann (1920-2006)  in Mainz (1955), Wolfgang Schiefer (1919-1980) in Erlangen (1958) und Friedrich Loew (1920-2018) in Homburg/Saar (1960).

Klaus Joachim Zülch
Kurt Schürmann
Wolfgang Schiefer

Auch einige Schüler Otfrid Foersters konnten nach dem Krieg eigene neurochirurgische Abteilungen einrichten. Arist Stender (1903-1975) baute ab 1946 in Berlin-Charlottenburg eine Klinik für Neurologie und Neurochirurgie auf, eine einmalige Kombination, die bis zu seiner Emeritierung erhalten blieb. Ernst Klar (1909-1967) und Hans Kuhlendahl (1910-1992) wurden ab 1947 in Heidelberg bzw. Düsseldorf tätig. Der Foerster- und Stender-Schüler Helmut Penzholz (1913-1985) wurde 1967 Nachfolger von Ernst Klar.

Arist Stender (Foto: Fritz Eschen)
Hans Kuhlendahl
Helmut Penzholz

Neben dieser kleineren, neurologisch geprägten Schule bildete sich eine dritte Gruppe um Traugott Riechert (1905-1983), der 1946 in Freiburg auf das zweite deutsche Extraordinariat berufen wurde. Zu seinen Mitarbeitern gehörten u.a. Fritz Mundinger (1924-2012), Wilhelm Umbach (1915-1976) und Robert Hemmer (1920-1998). Die Freiburger Arbeitsgruppe wurde besonders bekannt durch ihre Arbeiten auf dem Gebiet der Stereotaxie und der Kinderneurochirurgie.

Traugott Riechert

Aus dem Exil kehrte nur Franz Karl Kessel zurück. Nach u.a. achtjähriger Tätigkeit unter dem berühmten englischen Neurochirurgen Geoffrey Jefferson eröffnete er 1955 als britischer Staatsangehöriger in München eine kleine Fachabteilung, wenig beachtet und sicherlich unterschätzt. Von den deutschen neurochirurgischen Kollegen und der Fachgesellschaft hielt er sich fern.

1956 wurde in Westdeutschland der Facharzt für Neurochirurgie eingeführt. Die zunehmende Bedeutung des Faches spiegelte sich in der Mitgliederzahl der wissenschaftlichen Gesellschaft wider: Hatte sie in den frühen 1950er Jahren noch unter 50 gelegen, war sie bis 1962 auf 154 gestiegen und vervielfachte sich bis zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten 1990 noch einmal auf 631.

Als Reaktion der Alliierten auf den deutschen Angriffskrieg und die NS-Verbrechen wurden deutsche Wissenschaftler in der Nachkriegszeit international erneut weitgehend isoliert. 1949 durfte Arist Stender erstmals einen kurzen historischen Artikel im US-amerikanischen „Journal of Neurosurgery“ publizieren, der Zeitschrift, die 1944 als Reaktion auf die Einstellung des „Zentralblatts“ gegründet worden war. 1951 wurde er als vermutlich erster deutscher Neurochirurg zu einem Besuch in die USA eingeladen und gehörte ab 1955 als deutscher Vertreter schließlich zu einem Komitee, das die Gründung der „World Federation of Neurosurgical Societies“ (WFNS) vorbereitete. Bei diesen Vorbereitungen kam es auch zu ersten Gesprächen über eine Vereinigung auf europäischer Ebene, im Wesentlichen initiiert von dem Franzosen Marcel David. Sie führten zunächst 1958 zu einer gemeinsamen Tagung der deutschen und schweizerischen Gesellschaften auf „neutralem“ Boden in Zürich unter den Präsidenten Peter Röttgen und Hugo Krayenbühl. Bereits ein Jahr später folgte der „Erste Europäische Kongress für Neurochirurgie“, organisiert an demselben Ort und von denselben beiden Gesellschaften, jetzt unter Krayenbühl und Joachim Gerlach, mit Beteiligung zahlreicher anderer europäischer Länder. Diese Aktivitäten mündeten schließlich 1971in Prag in die Gründung der „European Association of Neurosurgical Societies“ (EANS). Zu einem wichtigen Meilenstein im Aussöhnungsprozess wurde außerdem die gemeinsame Tagung mit der Niederländischen Gesellschaft 1960 in Rotterdam.

Entscheidende Protagonisten auf deutscher Seite in diesem Prozess kamen aus der Tönnis-Schule. Friedrich Loew war nicht nur an der Organisation der genannten Tagungen und dem Aufbau der EANS beteiligt, sondern sorgte auch dafür, dass die von ihm betreute Zeitschrift Acta Neurochirurgica zum offiziellen Organ der EANS gewählt wurde. Hans-Werner Pia wurde zum ersten Vorsitzender des wichtigen „Training Committee“ der EANS, und Kurt Schürmann 1974 als erster Deutscher in das Präsidium der EANS gewählt. Karl-August Bushe gehörte schon 1967 zum Gründungskomitee der Europäischen Gesellschaft für Pädiatrische Neurochirurgie ESPN. 1981 wurde er schließlich Präsident des Siebten Neurochirurgischen Weltkongresses in München. Erster deutscher Präsident der Europäischen Neurochirurgischen Gesellschaft EANS wurde 1991 Mario Brock. Der Schürmann-Schüler Madjid Samii wurde 1997 zum Präsidenten der Internationalen Gesellschaft WFNS gewählt.

Friedrich Loew
Hans Werner Pia
Karl-August Bushe

Neurochirurgie in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)
Im östlichen Teilstaat erlangte Georg Merrem (1908-1971) eine ähnliche Bedeutung wie Wilhelm Tönnis im Westen. Als Schüler Emil Heymanns und dessen Nachfolger Carl Max Behrend war er 1948 von Arwed Pfeifer an die Leipziger Neurologische Klinik geholt worden, um eine neurochirurgische Abteilung aufzubauen. Merrem blieb der Einzige, der mit dem Aufbau einer eigenen Schule die Tradition von Krause und Heymann fortsetzte. Dank seines Einflusses wurde der Facharzt für Neurochirurgie in der DDR schon 1955 eingeführt, ein Jahr früher als im westlichen Teil Deutschlands. 1959 erhielt Merrem den ersten und einzigen Lehrstuhl für Neurochirurgie in der DDR. Seine Schüler sorgten für die Verbreitung des neurochirurgischen Faches, unter ihnen Friedrich Weickmann (1913-1983), Günther Niebeling (1923-2010), Siegfried Krumbholz (1928-2005), Horst Fried (1931-1998) und Peter Schaps (geb. 1932). Zusammen mit seinem Assistenten und Schwiegersohn Wolf-Eberhard Goldhahn verfasste Merrem 1960 ein neurochirurgisches Lehrbuch und 1966 einen Operationsatlas, Bücher, die auch in Westdeutschland verbreitet waren.

Georg Merrem

Neben Merrem konzentrierten sich auch einige Allgemeinchirurgen auf das Nervensystem, nachdem sie bei ausländischen Neurochirurgen hospitiert hatten. Dazu gehörten Willi Felix (1892-1962) in Berlin, Hans Joachim Serfling (1913-2004) in Greifswald und Berlin sowie Werner Usbeck (1920-2007) in Erfurt. Die Assistenten der beiden Letztgenannten, Rudolf Unger (geb. 1923), Joachim Reichel (1924-2011) und Helmut Pothe (geb. 1932), spezialisierten sich anschließend vollständig auf das neue Fach. Werner Budde in Halle und Werner Lembcke in Magdeburg förderten von sich aus die Spezialisierung und richteten fachlich autonome Abteilungen ein.

Friedrich Weickmann
Rudolf Unger
Günther Niebeling

Nachdem 1961 die DDR die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten abgeriegelt hatte, um den Exodus politischer Flüchtlinge zu stoppen, gründete Merrem eine eigene Fachgesellschaft, die “Vereinigung der Neurochirurgen in der DDR”. Er organisierte 1963 in Leipzig auch den ersten Kongress der neuen Gesellschaft. Verglichen mit ihren westdeutschen Kollegen hatten die Neurochirurgen der DDR mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Mehrzahl der ostdeutschen Allgemeinchirurgen wehrte sich erfolgreich gegen die Verselbstständigung des Faches. So setzte die Anerkennung als Facharzt für Neurochirurgie eine volle Weiterbildungszeit für Allgemeinchirurgie voraus, der sich die drei- bis vierjährige Spezialausbildung erst anschloss. 1967 wurde der neurochirurgische Facharzt aus bislang ungeklärten Gründen wieder abgeschafft, 1974 aber erneut eingeführt. In den 1960er und 1970er Jahren gab es acht neurochirurgische klinische Einrichtungen, die annähernd 16 Millionen Menschen zu versorgen hatten. Bis zum Herbst 1990 erhöhte sich ihre Zahl auf 14, verteilt auf sechs Universitäten (Berlin-Charité, Greifswald, Halle, Jena, Leipzig, Rostock), drei Medizinische Akademien (Dresden, Erfurt, Magdeburg), vier kommunale Kliniken (Berlin-Buch, Berlin-Friedrichshain, Chemnitz, Schwerin) und ein Militärkrankenhaus (Bad Saarow). Außer dem einzigen Lehrstuhl in Leipzig und den selbstständigen städtischen Kliniken in Berlin-Buch und (erst seit 1989) Schwerin waren diese Einrichtungen chirurgischen Direktoren unterstellt. Die Fachgesellschaft, seit 1967 “Gesellschaft für Neurochirurgie der DDR”, umfasste 1990 insgesamt 130 Mitglieder, aber nur etwa 40 aktive Neurochirurgen. Zur selben Zeit zählte die westdeutsche Gesellschaft 630 Mitglieder, die in 85 Einrichtungen eine Bevölkerung von 63 Millionen versorgten.

Ein zweites Problem resultierte aus der Politik der ostdeutschen Regierung, die auf strenge Abgrenzung gegenüber Westdeutschland achtete und sich politisch weitgehend an den Ländern des Ostblocks orientierte. Als Folge blieb der ostdeutsche Staat in großen Teilen der wissenschaftlichen Welt relativ isoliert. 1976 wurden die westdeutschen Mitglieder auf Anordnung der DDR-Behörden aus der Redaktion des „Zentralblatts für Neurochirurgie“ entfernt. Die Zahl der eingereichten Beiträge aus „nicht-sozialistischen“ Ländern sank danach dramatisch und „Neurosurgical Review“ wurde als westdeutscher Ersatz gegründet. Dennoch war die ostdeutsche Fachgesellschaft in internationalen Dachverbänden gut vertreten. So legte die European Association of Neurosurgical Societies EANS großen Wert darauf, alle Europäischen Ostblockländer zu integrieren. Entsprechend wurde Rudolf Reinhold Unger als Präsident des Europäischen Fortbildungskurses 1989 in Berlin gewählt. Letztlich wurde der Kurs von Ungers Nachfolger Günter Lang organisiert und der Tagungsort nach Rostock-Warnemünde verlegt.

Schließlich führten die massiven Reparationsforderungen der Sowjetunion, die starre, zentralistische Organisation der Wirtschaft und die ökonomische Bindung an die Sowjetunion zu einem chronischen Mangel an westlichen Devisen und damit zu einem Mangel an westlichen Waren, insbesondere High-tech-Geräten. Trotz dieser Schwierigkeiten entsprach die Neurochirurgie in der DDR internationalem Standard und erzielte bemerkenswerte Ergebnisse. So wurden schon in den 1960er Jahren schwierige Gefäßoperationen routinemäßig unter kontrollierter Hypothermie und Hypotension durchgeführt. Neu entwickelte Methoden umfassten die intraoperative Vitalfärbung von Tumorgewebe mit fluoreszierenden Tetrazyklinen und die Bestimmung des Malignitätsgrades von Tumoren anhand des elektrischen Gewebswiderstandes. Die interventionelle Neuroradiologie nach russischem Vorbild wurde bereits 1973 praktiziert.

1989 forderte eine zunehmende Zahl ostdeutscher Bürger politische Veränderungen. Die Demonstrationen führten schließlich zum Fall der Berliner Mauer, damit zur Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ und endeten mit der Forderung nach Wiedervereinigung. Sie wurde mit dem Deutschen Einigungsvertrag am 3. Oktober 1990 Wirklichkeit und bedeutete die Integration des ostdeutschen Staates in die Bundesrepublik. Kurz danach beschloss die ostdeutsche neurochirurgische Fachgesellschaft auf ihrer letzten Jahrestagung in Cottbus ihre Auflösung. Nach der Wiedervereinigung verloren einige neurochirurgische Klinikleiter ihre Stellung wegen des Vorwurfs, das frühere totalitäre politische System aktiv unterstützt zu haben. Da ihre Nachfolger vielfach aus Westdeutschland kamen, fühlten sich nicht wenige als Opfer einer ungerechtfertigten politischen Säuberungsaktion.

Vorbereitungstreffen zur Vereinigung der beiden deutschen neurochirurgischen Fachgesellschaften, Dresden, 24. Feb. 1990

Sitzend v. li. n. re: Günter Lang (Greifswald), Rüdiger Lorenz (Frankfurt/M), Wolf-Dieter Siedschlag (Berlin-Buch), Wolfgang Bock (Düsseldorf), Friedrich Loew (Homburg/Saar), Helmut Pothe (Erfurt).

Stehend v. li. n. re: Mario Brock (Berlin-Steglitz), Evangelos Markakis (Göttingen), Rudolf Fahlbusch (Erlangen), Johannes Schramm (Bonn), Bernhard L. Bauer (Marburg), Reinhold Frowein (Köln), Peter Schaps (Dresden), Siegfried Vogel (Berlin, Charité), Hermann Dietz (Hannover).

Neurochirurgie im vereinigten Deutschland
Seit 1990 wurden im vereinigten Deutschland 30 weitere neurochirurgische Einheiten errichtet, davon 18 in den östlichen Bundesländern. Gleichzeitig wurden zahlreiche kommunale Kliniken in kommerzielle Trägerschaft überführt. Zusätzlich entstanden viele private Praxen, so dass die neurochirurgische Versorgung zu einem guten Teil in private, gewinnorientierte Hände überging. 2017 gab es etwa 2300 aktive Neurochirurgen, zuständig für eine Bevölkerung von 82 Millionen. Neben 43 Universitätskliniken haben sich annähernd 140 kommunale und kommerzielle Häuser und über 200 Praxen etabliert. Insgesamt werden in Deutschland jährlich etwa 750.000 neurochirurgische Eingriffe durchgeführt.

In Forschung und klinischer Praxis hatte die Neurochirurgie in Deutschland schon nach dem Ersten Weltkrieg den Anschluss an die internationale Spitze verloren und bis zum Zweiten Weltkrieg den Rückstand nicht vollständig aufgeholt. Retrospektiv lässt sich nur schwer abschätzen, ab wann der Weltstandard wieder erreicht wurde. Wichtige Meilensteine auf diesem Weg bedeuteten die Einführung der Mikrochirurgie um 1970 und die wenig später folgende Computertomographie.

Einige Persönlichkeiten leisteten herausragende Beiträge zu dieser Entwicklung, so Hans Werner Pia (Gießen) in der Chirurgie der Aneurysmen und Angiome, Kurt Schürmann (Mainz) auf dem Gebiet der Orbita- und Schädelbasis-chirurgie, Rudolf Fahlbusch (Erlangen) und Dieter Lüdecke (Hamburg) in der Chirurgie der Hypophyse und Madjid Samii (Hannover) in der Chirurgie der Schädelbasis und besonders der Vestibularisschwannome, außerdem Friedrich Weickmann (Berlin-Buch) und Robert Hemmer (Freiburg) in der pädiatrischen Neurochirurgie. Michael Gaab (Hannover), Dieter Hellwig und Bernhard Ludwig Bauer (beide Marburg) befassten sich mit der endoskopischen Operationstechnik, Peter Schaps (Dresden) wurde zu einem Vorreiter der interventionellen Neuroradiologie.

Auf diagnostischem Gebiet sind Reinhold Frowein (Koma und Hirntod) und Ekkehard Kazner (Ultraschall und Computertomographie) hervorzuheben. Auch in der Grundlagenforschung wurden einige Namen weltweit bekannt: Wolfgang Seeger (chirurgische Anatomie), Alexander Baethmann (Sekundärschädigung nach Trauma und Ischämie), Hans-Jürgen Reulen (Hirnödem) und Mario Brock (Hirndruckmessung). Rudolf Kautzky erhielt hohe Anerkennung für seine Beiträge zu ethischen Problemen. Hans Kuhlendahl engagierte sich in der AWMF, einer Dachorganisation medizinischer Fachgesellschaften zur Verbesserung von Ausbildung und Versorgung und etablierte ein regelmäßiges Diskussionsforum mit Juristen.

Rudolf Kautzky
Madjid Samii
Wolfgang Seeger

Die deutsche Neurochirurgie wird heute durch drei Gesellschaften repräsentiert. Zusätzlich zur wissenschaftlichen Fachgesellschaft mit ihren derzeit (2017) über 1700 Mitgliedern gibt es den Berufsverband Deutscher Neurochirurgen BDNC, der 1989 gegründet wurde und aus einer Kommission „Berufsfragen“ hervorging. Er kümmert sich besonders um berufspolitische Probleme, aber auch um die stetige Weiterbildung. 1996 kam eine Deutsche Akademie für Neurochirurgie (DANC bzw. GANS = German Academy of Neurosurgery) hinzu. Sie wurde nach amerikanischem Vorbild von einigen Lehrstuhlinhabern unter dem Eindruck der zunehmenden Zahl frei praktizierender Neurochirurgen gegründet, um die Neurochirurgie an den Universitäten zu stärken.

Im Bewusstsein, dass es sich bei der Neurochirurgie um ein vergleichsweise kleines Fachgebiet handelt, traf die Fachgesellschaft 2008 eine bedeutende berufspolitische Entscheidung: Sie kehrte in den Dachverband der Chirurgen zurück.

Die neurochirurgische Ausbildung ist weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, an Kliniken gebunden und umfasst eine strukturierte, mindestens sechsjährige Tätigkeit in grundlegenden diagnostischen und chirurgischen Techniken sowie allgemeiner Patientenbetreuung. Besondere Kenntnisse in der Ultraschalldiagnostik werden ebenso gefordert wie eine mindestens halbjährige (in der Praxis meist längere) intensivmedizinische Ausbildung. Das frühere Pflichtjahr in allgemeiner Chirurgie wurde aufgegeben, wird aber als fakultative Weiterbildung angerechnet. Auch in anderen Fächern werden Ausbildungszeiten zum Teil akzeptiert. Ausbildungszeiten und der Operationskatalog werden in einem Logbuch erfasst, das auf europäischer Ebene entwickelt wurde. Die mit der Facharztausbildung, einer weiteren Spezialisierung und der Versorgungs-qualität zusammenhängenden Fragen werden in den Referaten einer „Neurochirurgischen Akademie für Aus-Fort- und Weiterbildung“ bearbeitet. Sie wird von der Fachgesellschaft und dem Berufsverband gemeinsam getragen und richtet u.a. jährliche Fortbildungskurse zur Förderung des Nachwuchses aus. Innerhalb der Fachgesellschaft widmet sich eine Reihe von Arbeitsgruppen (Sektionen) dem wissenschaftlichen Fortschritt auf verschiedenen Teilgebieten.

Seit ihrer Gründung verleiht die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie an herausragende Wissenschaftler die Ehrenmitgliedschaft. Der Chirurg Nicolai Guleke und der Neurologe Karl Kleist waren die ersten so Geehrten. Außerdem wurden Ehrenmedaillen gestiftet, um besondere Verdienste auf wissenschaft-lichem Gebiet oder für die Fachgesellschaft zu würdigen. Dazu gehören die Fedor-Krause-Medaille und die Otfrid-Foerster-Medaille, 1953 gestiftet und verliehen für hervorragende Beiträge zur Neurochirurgie bzw. zur Neurophysiologie. Seit 1989 wird außerdem die Wilhelm-Tönnis-Medaille verliehen „für überragende Beiträge zur Neurochirurgie auf klinischem, experimentellen oder organisatorischen Gebiet“. 1995 kam die Fritz-König-Medaille hinzu, mit der auch Nichtmediziner geehrt werden können, die für die Fachgesellschaft Außerordentliches geleistet haben. Mehrere Stiftungen wie die Wilhelm-Tönnis-Stiftung und die Stiftung Neurochirurgische Forschung vergeben regelmäßig individuelle Stipendien für Forschungsprojekte oder Studienreisen. Anlässlich der Jahrestagungen der Fachgesellschaft werden weitere Preise für hervorragende wissenschaftliche Beiträge ausgelobt.

Die Autoren danken den zahlreichen Informanten, Interviewpartnern und Stiftern von Nachlässen!

Bildquellen: Wenn nicht anders gekennzeichnet: Archiv für Geschichte der deutschen Neurochirurgie, Würzburg.

Zuletzt geändert am 29-05-2018